Allein, aber nie einsam auf den Shetlands
Schon beim Landeanflug ist mir klar: das wird ein Ausflug in entweder einen Fantasyroman oder in eine Wagneroper. Nebel wabert über dunkelgrüne Spitzen, die wie die Kammzacken eines schlafenden Drachen aus dem Atlantik ragen.
Wait for me, dragon, we’ll meet in the sky.
By fire and magic I am sworn
kreischt Eric Adams‘ Falsett-Stimme in meinem Kopf. Drums und Bass hämmern mir die Ungeduld auf das Land da unten ins Blut. Der Lindwurm, der da in Wasser und Nebel schläft, ist nicht Nessie – man hätte es vermuten können, bin schließlich in schottischen Gefilden.
Endlich, der Flieger ist auf dem Betonstreifen hinterm Meer angelangt. Ich zieh die Musikstöpsel aus den Ohren und schau ins Grau der Shetlands. Der mystische Nebel lichtet sich noch während ich das Auto anmiete. Ich wollte in den nördlichsten Zipfel Schottlands, nun fahre ich im französischen Auto auf südskandinavischen Straßen unter britischem Recht.
Jarlshof – Archäologie in allen Schichten
Die erste Nacht werde ich in einem alten Herrenhaus verbringen, mit vielen Schornsteinen und verspielten Erkern, um die der Wind pfeift. Vor meinen drei Erkerfenstern rauscht die graue See, der Drachen ist fast in ihr versunken. Aus der Luft wirkte er größer. Auf dem Nachbargrundstück, dem Jarlshof empfängt mich Ticketverkäufer Steve mit einem breiten Grinsen, das er kurz oberhalb der türkis-schwarzen Tartan-Weste trägt.
„Hier vorne sind gleich die Steinzeit-Reste, dahinter die Rundhäuser der Pikten, ganz hinten stehen die Wikingerhäusermauern“ weist er mich in die archäologische Top-Attraktion der Shetland-Inseln ein. Auf den Turm aus dem Mittelalter könne man zwar hoch und über die Küste bis zum Leuchtturm von Sumburgh Head gucken, aber ich solle aufpassen, die alte Wendeltreppe… weg bin ich, rauf aufs Eisengerüst. Aha, da hinten sind die Klippen!
Papageientaucher-Alarm!
Mich zieht vor allem ein komischer Vogel auf die Shetlands – nicht die Ponys! Ich war nie ein Wendy-Girl. Aber Papageientaucher, hier heißen sie Tammie Norries, die sind schon was Besonderes. Die können immerhin neben rumstehen und fressen auch noch Berge hochhopsen, 40 Flügelschläge die Minute tun und tapsig aussehen. Wenn sie sich strecken und den Rücken durchdrücken, könnte man mit ihnen eine Militärparade abhalten. Ich suche also eine ganze Armee!
Die Tammie Norries von Sumburgh Head
Im Slalom um die Schafe steure ich den Mietwagen zum südlichsten Punkt der Shetlands und dem dortigen Leuchtturm am Sumburgh Head. Hier haben sich die drolligen Vögel eine hübsche Klippe zum Brüten und Sonnen ausgesucht. Ich nehme das Warnschild vor der zackigen Felsenkante wahr und setz ich mich auf die Mauer, an der bereits die putzigen Vögelchen patrouillieren. Die Sonne blinzelt mir aufmunternd entgegen. Ich schau die Klippen hinab.
Auf erdigen Vorsprüngen haben sich die Papageientaucher ihre Baue gegraben und eingerichtet. Ihre Vorgärten sind mit wilden Blumen und Gras bewachsen, einige sind Zuhause. Dass Tammie Norries nicht so clever sind, wird ganz offensichtlich, als ich mich über die kleine Steinmauer lehne: sie gehen nicht weg. Im Gegenteil, sie werfen sich in Pose und machen den Offizier in weißem Laibchen und schwarzem Rock. Wir sonnen uns zusammen, ich und die ulkigen Vögel. Bis einer über die Klippe hopst… und wild zu flattern beginnt. Das sind also 40 Schläge die Minute und ich muss doch ein bisschen in die Kulisse kichern. Tollpatsche sind mir sympathisch.
Im Slalom um die Lochs Shetlands
Ich treffe sie immer mal wieder, die Tammie Norries. An den Klippen der zerklüfteten Inselwelt sind sie überall. Ich versuche gar nicht erst nach überall zu gelangen. Das Auto schlänget sich in die entlegensten Winkel der fjordischen Voes und feinsandigen Wicks. Weit und breit keine Menschenseele, auch keine Autos auf den beinahe schlaglochfreien Fahrbahnen. Die Schafsseelen traben ziellos über Torf und Heide, die die Mondlandschaft zwischen den kleinen Lochs und noch kleineren Sumpfteichen bedecken.
Traumstrände auf den Shetlands
Warmes Spätsommergrün leuchtet auf als die Sonnenstrahlen durch die bedrohlich graue Wolkendecke brechen. Und dann singt George Harrison in meinem Kopf etwas von „dibn dida… here comes the sun…“ Kann man high werden von Sonne und Autofahren?
Little darling, the smiles returning to the faces.
Little darling…
Als man der Sonne nicht mehr näher kommen kann, steh ich wie Little Darling am feinen, weißen Sandstrand und erblicke: das Toilettenhäuschen von Sandness. Sonst nix. Nur weißer Sand und ein Steinhaus mit rot markierten Männlein und Weiblein. Barfuß spring ich auf den Strand, es ist freilich zu kalt zum Baden, aber eine kleine Runde in der frischen Brise nehme ich mir aus. Dann muss ich zurück, um all die Schafe und Passing Places herum.
Am Mael Beach komme ich am Tag darauf vorbei. Was für eine Augenweide, wenn man den Pfad durch die Wollgraswiese mit den pinken Pechnelken erst einmal gefunden hat. Eine kleine Holztür weist den Weg eine kurze Düne hinab zur schnuckeligen Halbmond-Bucht. Wenn das Türkise nicht so kalt wäre… ich bleibe beim Fußbad im Sand – es ist September, mehr geht nicht.
Märchenstunde bei Elma
Am Abend lerne ich, dass an den Stränden der Shetlands die Selkies leben. Bei einem Märchenabend im Wohnzimmer von Elma Johnson (sie verstarb leider 2012) wird shetländische Folklore gefiddelt, gesungen und erzählt. Mein Favorit ist der Rhabarber-Crumble, aber ich lass mich nicht ablenken von den Selkie-Geschichten über Seehunde, die sich in Menschen verwandeln und sie verführen. Wenn Elma flüstert, spitzen alle gespannt die Ohren. Wenn Elma scherzt, lacht sie selbst am lautesten.
Und wenn Elma die alten Volksweisen vom Trollbach im Shetland-Dialekt singt, schmettert sie das Liedgut wie ein trunkener Seemann. Das Volkslied von den hinterlistigen Trollen reißt die gesamte Wohnzimmerbesetzung in einen lautstarken Jubelgesang. Als ich aufbreche, warnt mich Märchentante Elma noch, „Pass auf, geh nicht in hohes Heidekraut. Da wohnen sie, die Trolle!“ Ich trolle mich, voll des Crumbles und mit rosigen Wangen von Sonne und Wind, ins Bett.
Insel Yell
Als ich die Hauptinsel und ihre Miniatur-Hauptstadt Lerwick am nächsten Tag verlasse, begleitet mich die Sonne über Yell zum schönsten Strand der Inseln, den Breckon Sands. Auch er ist eine Sackgasse, eine goldgelbe mit Wiesen und Weiden um sich herum. Ein Hundebesitzer dreht gerade seine Gassi-Runde. Aus unerfindlichen Gründen legt mein Kopf eine alte Queen-Platte auf.
Sail away sweet sister,
sail across the sea
Es könnte am Ausblick auf den Atlantik liegen, der irgendwo ganz da hinten mit dem Horizont zu einer blaugrauen Masse verschmilzt. Keine Boote in der See, dafür geh ich wieder auf Fahrt. Ich muss sie erreichen, die nördlichste der Inseln.
Wikinger auf der Insel Unst
Sie heißt Unst, die nördlichste Insel der Shetlands, Schottlands und Großbritanniens und ist Halterin diverser Superlative. Die nördlichste Brauerei will ich besuchen, wohl auch den nördlichsten Shop, der nördlichste Flughafen scheint stillgelegt, und der nördlichste Leuchtturm ist auch nur äußerst schwierig und gefährlich per Boot erreichbar, aber sicher zu sehen. Wie ich feststelle leben hier aber auch die verrücktesten Schotten.
Einer von ihnen kriecht am nächsten Morgen in Wikinger-Jute, helmbewährt und mit einem Bügelbrett bewaffnet über das Dach eines restaurierten Langbootes. Unten stehen zwei Frauen mit ihren Knipsen und dirigieren den scheinbar willenlosen Wikinger mit dem Bügeleisen zu Posen, das Brett anzuheben, das Brett mehr links zu setzen, sich bügelnd zu stellen.
Noch mehr Shetlands? Wie wäre es mit einem Wikinger-Fest und ein bisschen Feuer unterm …??
Das Wohnzimmer in der Bushaltestelle
Am Rande der britischen und gleichzeitig skandinavischen Welt muss man sich ständig selbst unterhalten, um die langen Tage des Mittsommers zu füllen und die 500 Unster setzen alles daran, zu überzeugen. „Das ist das Thema unseres Facebook-Fotowettbewerbs. Das Bügeleisen auf dem Foto muss irgendwo auf Unst platziert worden sein.“ erklärt mir eine der Dirigentinnen. Ich verstehe vollkommen! Auch die Bushaltestelle, in der neben Piratenwimpeln, PC-Bildschirm und Korkenziehern ebenfalls ein Bügeleisen stand. Einfach so. Ich stimme ins Fotofeuer ein – man soll ja immer tun, was die Locals tun. In meinem Kopf haut Eddie Van Halen in die Saiten und Sammy Hagar singt etwas von
catch your magic moment,
do it right here and now…
Mit dieser Aktion haben sie mich erobert, der Wikinger und die Shetländer, alles Verrückte!
Nach sieben Tagen eitel Sonnenschein, Wandern im Naturreservat von Hermaness, noch mehr lustigen Vogelbeobachtungen und diversen Museumsbesuchen sitze ich am Flughafen von Sumburgh und schau dem Regen zu. Er kommt genau richtig: nach mir. Ich ziehe zufrieden und doch etwas erstaunt eine kuriose Bilanz über diesen Roadtrip:
1. Ich habe vergessen den Kilometerstand abzulesen und
2. Ich habe auf diesen, im Grunde, sehr einsamen Felsbrocken im Meer erstaunlich viele, liebenswerte und immer zum Plaudern aufgelegte Menschen getroffen.
Cause you’ll never walk alone!
Ich reiste 2011 das erste Mal auf die Shetlands und recherchierte mit Unterstützung von VisitScotland für Zeitungsartikel (um Blog-Berichte hat niemand gebeten), die mittlerweile in mehreren Zeitungen wie dem Tagesspiegel und auch online (web.de) erschienen sind.
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